“Geht wählen, auch wenn Ihr noch nicht alles versteht” - Toplum24
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“Geht wählen, auch wenn Ihr noch nicht alles versteht”

Frieder Gebhardt ist seit sieben Jahren Bürgermeister von Langen in Deutschland.

Er hatte sich eigentlich bis er eine Familie hatte, für Politik nicht interessiert. Dann war er zu dem Schluss gekommen:


“...Ich kann nicht nur dauernd herummeckern, dass irgendwelche Dinge nicht stimmen oder nicht funktionieren, sondern wenn ich etwas verändern will, dann muss ich selbst mitmachen...”
Inzwischen ist er hauptamtlicher Politiker.

Kurz vor Weihnachten trafen ihn unsere jungen Redakteure İlyas Karatepe, Koray Millidere, Halem Dar und Abdullah Özcan. Bürgermeister Gebhardt beantwortete ihre Fragen ganz offen.

Frage: Was war Ihre erste politische Tätigkeit in Ihrer Jugend?

Antwort: Als Jugendlicher hat mich Politik überhaupt nicht interessiert. Das ist erst gekommen, als ich eine Familie hatte, mich sozusagen niedergelassen habe, und dann hier in Langen gemerkt habe, ich kann nicht nur dauernd herummeckern, dass irgendwelche Dinge nicht stimmen oder nicht funktionieren, sondern wenn ich etwas verändern will, dann muss ich selbst mitmachen.

Frage: Sie sind seit sieben Jahren Bürgermeister. Haben Sie es jemals bereut, Bürgermeister geworden zu sein?

Antwort. Nein, kein einziges Mal. Das sagen aber auch viele meiner Amtskollegen. Das ist einer der schönsten Jobs der Welt. Denn man ist in einer Führungsposition, also nicht in einer Situation, wo andere einem sagen, was man zu tun hat – auch das gibt es, denn die Bürgerschaft erwartet ja auch Dinge von mir – und weil man sehr viel mit Menschen zu tun hat. Es ist sehr abwechslungsreich und ich habe es noch nicht eine Minute bereut.

Frage: Welche berufliche Tätigkeit hatten Sie, bevor Sie Bürgermeister geworden sind?

Antwort: Ich hatte verschiedene Berufe. Ich habe eine Ausbildung zum Landkarten-Techniker gemacht; das sind Menschen, die damals noch mit Feder und Lineal Landkarten gezeichnet haben. Später habe ich das auch studiert, bin aber dann nach meinem Studium nicht in diesen Beruf eingestiegen, sondern habe in einem Architekturbüro im Bereich Stadtplanung gearbeitet, was mir heute übrigens zugutekommt bei meiner jetzigen Tätigkeit. Ich habe mich dann später besonnen und als Kartograph – das ist die Berufsbezeichnung - gearbeitet, bin von Berlin nach Darmstadt gegangen und dann mit meinem Darmstädter Betrieb umgezogen nach Gotha in Thüringen, 1989 bzw. 1990, als die Mauer gefallen war. Dort habe ich dann aber den Beruf aufgegeben, bin zurück nach Langen, habe völlig die Branche gewechselt und war hier 11 Jahre Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt, also einer großen Sozialeinrichtung. Ich habe also zunächst in der Kartographie, der Planung, der Geographie gearbeitet und dann plötzlich im Sozialwesen; das war etwas ganz Anderes. Und aus dieser Position heraus bin ich dann Bürgermeister geworden.

Frage: Was sind Ihre zukünftigen Pläne für Jugendliche in Langen?

Antwort: Also, gezielte Pläne gibt es nicht. Der Bereich Jugend und Soziales ist ja auch nicht in meinem Dezernat. Wir haben vor einigen Jahren – das war so etwa in der Zeit, als ich Bürgermeister wurde – die Jugendarbeit dezentralisiert. Wir haben die Stadt Langen in Sozialräume eingeteilt, für jeden der vier Sozialräume einen Partner im Bereich der Jugendarbeit gesucht und sind immer noch am Ausbauen dieser dezentralen Jugendarbeit. Also, das heißt, nicht nur im Jugendzentrum zu betreuen, sich dort hinzusetzen und zu warten, dass die Jugendlichen kommen, sondern der Ansatz den wir heute suchen, ist der dezentrale Ansatz, dass wir zu den Jugendlichen hingehen, uns nach deren Bedürfnissen erkundigen und dann versuchen, die Bedürfnisse vor Ort zu befriedigen mit den entsprechenden Angeboten.

Frage: Warum ist Politik so ein anreizend? Was ist das Geheimnis dahinter?

Antwort: Ich weiß nicht, ob Politik anreizend ist. Meistens ist ja eine persönliche Betroffenheit der Anlass, weshalb man sich überhaupt für Politik interessiert. Es gibt viele junge Eltern, die sich für Politik erst interessieren, wenn sie ein eigenes Kind haben, für ihr Kind keinen Kindergartenplatz bekommen und dann hinterfragen, warum das so ist. Und wenn sie mit der Antwort nicht zufrieden sind, dann kann das durchaus auch dazu führen, dass sie sagen: Dann engagiere ich mich selbst politisch, um dazu beizutragen, dass sich die Situation verbessert.

Frage: Wie sind die Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten hier im Rathaus der Stadt Langen?

Antwort: Im Augenblick sind sie nicht besonders gut, weil wir sehr angehalten sind, zu sparen. Der Haushalt der Stadt Langen, also unser Wirtschaftsplan, ist ja hoch defizitär. Wir haben in den vergangenen drei Jahren in jedem Jahr um die 15 Millionen Euro mehr ausgegeben als eingenommen. Das ist eine Situation, die wir nicht ständig so weiterführen können – wir haben kein Erspartes mehr – sondern wir holen uns das, was wir zum Wirtschaften brauchen, mehr oder weniger von der Bank. Das hat dazu geführt, dass wir den Stellenplan zurückgefahren und auch die Ausbildung reduziert haben. Das fällt uns inzwischen fast auf die Füße, weil uns die jungen Nachwuchskräfte dann irgendwann fehlen. Deswegen fangen wir jetzt behutsam wieder an mit Ausbildung. Im Idealfall würden wir pro Jahr mindestens drei neue Auszubildende als Verwaltungs-Fachangestellte einstellen. Das sollte unser Ziel sein.

Frage: Was ist Ihr Appell an die Jugendlichen, damit sie sich mehr politisch beteiligen?

Antwort: Mein Appell ist, sich erst einmal politisch zu interessieren, wählen zu gehen, auch wenn man das vielleicht noch nicht alles versteht, denn das ist ja unser großes Problem, dass die Wahlbeteiligung in Deutschland relativ niedrig ist. Das hängt immer so ein bisschen davon ab, welche Wahl es ist, aber die Wahlbeteiligung allgemein ist relativ niedrig. Dieses Recht in Anspruch zu nehmen wenn man 18 Jahre alt ist und wählen darf, das würde ich jedem empfehlen, auch wenn man das nicht alles versteht. Wenn ich als Jugendlicher wählen gegangen bin, gerade beim Bundestag, habe ich nicht gewusst, wo die großen Unterschiede in den politischen Zielen zwischen CDU, FDP und SPD sind. Aber ich bin da meinem Gefühl nachgegangen und im Laufe der Zeit entwickelt sich ja ein politisches Bewusstsein, dass man deutlicher und klarer sieht, welcher Partei man seine Stimme geben würde oder welchem Kandidaten, wenn es um eine Persönlichkeitswahl geht. Aber einfach sich dafür zu interessieren, ist wichtig. Wir dürfen nicht sagen, „es geht uns nichts an“, denn es ist auch unser eigenes Leben, das von politischen Entscheidungen betroffen ist.

Frage: Wie sieht es mit Flüchtlingen hier in Langen aus bzw. was sind die Pläne für kommende Flüchtlinge?

Antwort: Wir sind eigentlich stolz darauf, wie wir hier in Langen dieses Thema Flüchtlinge im Griff haben. Da muss man unterscheiden: es gibt sogenannte Erst-Einrichtungen, so eine ist beispielsweise in Neu-Isenburg, diese große Einrichtung die bis zu 1000 Flüchtlinge aufnehmen kann. Und wir haben seit 7-8 Wochen hier in Langen eine sogenannte Überlauf-Einrichtung, das ist sozusagen eine Zwischenstation für Flüchtlinge, die für bis zu 700 Personen ausgelegt ist, und dorthin werden auch regelmäßig Flüchtlinge hingebracht. Sie kommen mit Bussen oder mit der Bahn, aber bleiben manchmal nur einen oder zwei Tage und ziehen dann weiter, weil sie bei uns noch nicht registriert sind. Und so lange sie noch nicht registriert sind, können sie sich noch frei bewegen und gelten quasi als obdachlos. Da können sie noch weiterziehen und das tun viele, weil sie irgendwo im Bundesgebiet Angehörige oder Bekannte haben, die sie suchen. Früher war ihr Fernziel Schweden, aber da sind ja die Grenzen inzwischen auch, naja, nicht dicht, aber es wird sehr streng kontrolliert, so dass sich das inzwischen anders verteilt. Daneben gibt es seit April 2014 die sogenannte Regelzuweisung, das heißt, der Kreis Offenbach ist verpflichtet, jeden Monat eine gewisse Anzahl von Flüchtlingen unterzubringen, so etwa 200 bis 220, die Zahlen schwanken. Das wird aufgeteilt auf die Kommunen im Kreis, orientiert an der Größe der Gemeinde. Bei uns sind das im Augenblick 12 bis 18 Flüchtlinge pro Monat, die wir unterzubringen haben. Das heißt, wir haben seit April 2014 etwa 370 bis 400 Flüchtlinge in Wohnungen untergebracht. Wir bekommen sie vom Kreis zugewiesen, und wir könnten nicht sagen, „wir wollen die nicht“, sondern es ist unsere Aufgabe und unsere Pflicht, für diese Flüchtlinge Wohnraum bereitzustellen und die Betreuung macht dann der Kreis. Wir sind stolz darauf, dass es uns bis heute gelungen ist, den großen Teil dieser Flüchtlinge in von privat angemietetem Wohnraum unterzubringen. Wir haben eine einzige Sammelunterkunft, das ist die alte Kindertagesstätte in der Zimmerstraße. Da leben im Moment etwa 50 Personen, das sind allein reisende Männer, die dort untergebracht werden und die sich dort ganz wohlfühlen.
Das Flüchtlingsthema wird uns natürlich auch in den nächsten Jahren noch weiter beschäftigen. Im Moment sind die Zahlen ja etwas zurückgegangen an Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen, aber wir wissen ja, dass allein in der Türkei 2,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien sitzen. Sie werden nicht ewig in der Türkei bleiben und wir rechnen damit, dass der Flüchtlingsstrom wieder anwachsen wird, wenn die Witterungsbedingungen sich wieder etwas verbessert haben. Und wir werden weiter hier Flüchtlinge unterzubringen haben.
Es ist eine Völkerwanderung.

Frage: Interessieren sich Ihre Kinder für Politik?

Antwort: Ich habe zwei Söhne, Thilo ist 29 und Jonas 23. Bei Jonas weiß ich es gar nicht so genau, er studiert in Karlsruhe und ist nicht so oft bei uns. Ich will nicht ausschließen, dass er sich auch einmal für ein politisches Thema interessiert, aber nicht so stark, dass ich sagen könnte, „er interessiert sich für Politik.“ Und Thilo interessiert sich im Augenblick garantiert nicht für Politik. Aber ich muss gestehen, das war bei mir in dem Alter auch nicht anders. Das hat erst angefangen, als ich Mitte 30 war, hierher nach Langen kam und dann das Gefühl hatte, ich muss hier vor Ort mitgestalten.

Frage: Wäre es nicht besser, in jungen Jahren anzufangen?

Antwort: Ja, natürlich. Gerade eben habe ich gelesen, dass Dreieich ein Jugendparlament ins Leben gerufen hat, das ist etwas, was ich mir in Langen auch gut vorstellen könnte. Aber das ist nichts, was der Bürgermeister vor Ort entscheidet, sondern das wäre etwas, was das Parlament beschließen müsste und dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen. Allerdings bin ich dagegen, Pseudo-Einrichtungen zu schaffen, die eigentlich keine Funktion haben. Also, wenn man so ein Jugendparlament einrichtet, dann muss man sehr klar regeln, welche Chancen die Jugendlichen haben, auch mitzugestalten. Nur Jugendliche dazuhaben, die da sitzen und miteinander über Politik diskutieren, ohne damit etwas erreichen zu können, bringt nicht viel.

Frage: Wie kann die Stadt Langen ihr Haushaltsdefizit in den Griff bekommen?

Antwort: Wir müssen sparsam haushalten, aber da gibt es gottseidank auch eine Mehrheit im Parlament, das ja über unseren Wirtschaftsplan entscheidet. Sie sind sich weitestgehend einig, dass wir den Haushalt nicht konsolidieren und nicht gesunden lassen können, ausschließlich indem wir an allem sparen, denn dann würden wir die Stadt ganz schnell kaputtsparen. Ich könnte Geld sparen, indem ich das Hallenbad, die Stadtbücherei, die Volkshochschule und die Musikschule schließe. Da könnte ich überall ein bisschen Geld sparen, aber die Spar-Effekte wären nicht besonders groß, denn der größte Posten sind in aller Regel die Personalkosten. Und das Personal kann ich nicht einfach nach Hause schicken. Sie haben Arbeitsverträge, sogar teilweise sehr gesicherte Arbeitsverträge, und ich wäre als Arbeitgeber immer verpflichtet, sie irgendwo anders unterzubringen, also würde ich die Personalkosten nicht loswerden. Deswegen wären die Spar-Effekte relativ gering, aber der Negativeffekt in der Gesellschaft wäre enorm, wenn die Leute nicht mehr in die Bücherei könnten, nicht mehr schwimmen gehen könnten und sich nicht mehr fortbilden könnten.
Da sind sich gottseidank alle einig, dass wir da nicht sparen können. Wir müssen unsere Einnahmen verbessern und in aller Regel sieht das dann so aus, dass wir uns leider bei Euch und Euren Eltern über Steuern und Gebühren das Geld holen das uns fehlt. Es ist leider so.

Frage: Herr Bürgermeister, können Sie sich vorstellen, dass eines Tages einer oder eine dieser Jugendlichen im Stadtparlament sitzt?

Antwort: Alle könnte ich mir vorstellen, alle!

Frage: Können Sie sich auch vorstellen, Ihre Position an einen oder eine davon weiterzugeben?

Antwort: Ja, natürlich kann ich mir das vorstellen. Ich bin ein ganz einfacher Bub vom Land; ich bin kein Doktor oder Professor, ich habe ein normales Studium absolviert und hatte die Chance, Bürgermeister zu werden. Gerade was Menschen mit Migrationshintergrund betrifft, wir haben ja gottseidank ab 1. Januar 2016 in Heusenstamm einen Bürgermeister, der aus einer türkischen Familie kommt, Halil Öztas. Wir erleben das ja auch gerade in der momentanen Entwicklung. Wir haben in Langen einen Ausländeranteil von etwas über 13%. Dieser Ausländeranteil ist in den letzten Jahren gewachsen, das liegt auch daran, dass wir so dicht am Flughafen Frankfurt sind, der Internationalität in die Region bringt. Jetzt über die Flüchtlinge werden wir einen noch wesentlich höheren Ausländeranteil haben, wobei diese Menschen aus anderen Ländern ja irgendwann einmal auch Deutsche sein werden, so wie ich. Dann haben sie das gleiche Wahlrecht, passiv wie auch aktiv, und ich halte es für überhaupt nicht ausgeschlossen, dass wir irgendwann einmal jemanden mit Migrationshintergrund als Bürgermeister haben. Im Gegenteil, in manchen Regionen wäre das sogar wünschenswert.

Frage: Hauptsache, dass sie Langenerin oder Langener sind?

Antwort: Ja, aber selbst das ist ja noch nicht einmal Bedingung. Auf den Bürgermeisterposten kann jeder kommen, da muss man nicht vor Ort wohnen, da kann sich jeder bewerben, der sich hier zugehörig fühlt.

 

18 Dezember 2015, Langen Rathaus

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